LESEPROBE<
Stona Fitch, Senseless, Berlin 2004, Matthes & Seitz S.46-48: Der Doktor griff in seine schwarze Tasche, holte eine Spritze heraus und füllte sie behutsam mit einer klaren Flüssigkeit aus einem Fläschchen. Mit hochgezogenen Augenbrauen, als böte er mir eine Frucht oder eine Zigarette, hielt er sie mir vor die Nase. Ich schüttelte den Kopf, unsicher, was in der Spritze war, doch sicher, dass es mir nicht guttun würde. „Ich schlage vor, Sie nehmen die Spritze dankbar an“, flüsterte Blackbeard. „Es ist nur ein Schmerzmittel und wird Ihnen helfen. Sie können von Glück sagen, dass wir keine Amateure sind.“ Er griff mir über die Schultern, packte die Armlehnen und fixierte mich auf diese Weise auf dem Stuhl. Ich wehrte mich, konnte aber nur mit den Beinen um mich treten. Ich bin sicher, dass ich die ganze Zeit nein, hört auf, lasst mich los und dergleichen mehr brüllte. Aber ich war taub für meine Worte. Ich hörte nur ein Tosen in den Ohren. […] „Gleich haben wir’s geschafft“, rief Blackbeard. Er verstärkte seinen Griff, und ich sah den Doktor erneut auf mich zukommen. Die Zange hielt er in der rechten, das Bügeleisen, dessen Schnur über den Boden schleifte, in der linken Hand. Seine Augen hinter der Maske waren vollkommen ausdruckslos. Als erfüllte er nur eine Pflicht, die man ihm zugewiesen hatte, und dies so gewissenhaft wie möglich. Er kniff unvermittelt zu, erwischte meine Zunge diesmal quer. Ich spürte Blackbeards Hand, die meinen Kiefer nach unten drückte. Das Schmerzmittel hatte meinen Blutkreislauf erreicht, so dass das Geschehen mich merkwürdig unberührt ließ, als schwebte ich an der Decke, zwischen den Gittern und schwarzen Kabeln. Ich sah mich selbst, festgenagelt an meinen Stuhl, voller Angst und Widerwillen. Nin zu meinen Füßen hielt die klirrende Schüssel wie einen Kelch. Blackbeards feste Umarmung kam mir fast brüderlich vor. Und der gleichgültige Doktor schien darum bemüht, die Blutung auf korrekte Weise zu stoppen. Gemeinsam bildeten wir ein perverses mittelalterliches Stillleben. Des Kranken Heilung. Der Doktor näherte das Bügeleisen meinem Mund und versengte mir die Zunge, was erneut den Schmerz auflodern ließ. Rauch zog an meinen Augen vorüber und ich roch gegrilltes Fleisch. Er drückte das Bügeleisen einen Augenblick fest an, und meine Augen schlossen sich vor dem, was in dieser anonymen Wohnung irgendwo in Belgien, an einem Nachmittag im Herbst mit mir geschah. Ich verließ den weißen Raum und flog auf unsere Farm, um durch den tiefen Wald zu wandern, wo dichtes Ahornlaub die Wege säumte und aller Schmerz aus der Welt verschwunden war. © 2004 MSB Matthes&Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH, alle Rechte, insbesondere auch die Nutzung für Text- und Datamining im Sinne von § 44b UrhG, vorbehalten