LESEPROBE<
Axel Matthes (ed.), Das Heilige im Alltag oder Vom Swing der Dinge, München 2012, Diederichs Verlag Roger Caillois, „Dinge“ (S.166f) Als Kind, noch ehe ich lesen konnte und nur die Pflanzen, die Haustiere und eine kleine Anzahl von Bildern und Sternen zu benennen wusste, dienten mir die Dinge, zumal sie ein und demselben Universum angehörten, bereits als schützendes Gegengift zu den Büchern und zur Welt des Gedruckten im Allgemeinen. Das erste Ding, das ich meiner Erinnerung nach lange Zeit begehrte, war ein Karabinerhaken. So hieß ein Gerät aus Metall, zum Anketten der Hunde gebraucht, eine Art federnder Verschluss, der mir die Pforten zu einem Zauberreich öffnete. Besonders eine Eigenheit daran verblüffte mich: der ovale Hohlraum, der den Zweck hatte, einen Ring am Halsband des Hundes zu umschließen, und demjenigen im Hüftbein eines Hasen glich. Wir aßen oft Hasen, und ich versäumte es nie, mir das Stück zu sichern, das diesen mit einer Öffnung im breiten Teil versehenen Knochen enthielt, der in einem Löffelstiel endete. Der Karabiner war auch ein absurder Löffel mit Loch. Ich habe dieses Beispiel bereits angeführt und mit folgenden Worten kommentiert: „Ich möchte keine falschen Schlüsse ziehen, doch wenn ich es recht bedenke, war dieser skurrile Vergleich womöglich die erste jener Analogien, die mich später bemüßigen sollten, so häufig und vergnügt die Grenze zu überschreiten, welche die Erzeugnisse der Natur von denen der Industrie scheidet. Seinetwegen fand ich es natürlich, dass die Fabriken der Menschen Gusseisen erzeugten, da die Bienen ja Honig herstellten. Wahrscheinlich empfiehlt es sich, diesen nachträglichen Projektionen zu misstrauen. Gleichwohl lag hierin der Keim, ein erster Anreiz. Die ungewöhnliche Ähnlichkeit verlieh dem Karabinerhaken etwas Anormales, wenn nicht gar Zauberisches, das ihn von der Welt der Dinge absonderte. Auch wenn ich ihm nicht die wunderbaren Eigenschaften der Lampe Aladins zuschrieb, von der ich ohnedies noch nichts gehört hatte, so bestärkte mich meine Schwäche für ihn doch in der Vorstellung, dass die Wahl eines ‚Zauber-Dings‘, wie ich heute sagen würde, einer der natürlichsten Neigungen der Phantasie entspricht.“ … Guido Ceronetti, „Über das Alter“ (S. 458) Dummes Zeug bekommt man ein Leben lang zu hören, aber im Alter muss man besonders viel davon schlucken. Der Magen eines alten Menschen scheint nur deshalb weniger Nahrung aufzunehmen, um mehr Platz zu schaffen für all den Blödsinn. Hier eine kleine Liste der größten Peinlichkeiten: „Du bist doch nicht alt; in deinem Alter kann man noch eine Menge unternehmen“; „Das Wichtigste ist, aktiv zu bleiben; wer aktiv bleibt, hält sich jung“; „Fünfundsiebzig? Aber dann sind Sie ja noch ein blutjunges Mädchen, Signora!“; „Mit jungen Leuten zusammenzuarbeiten, darin liegt das Geheimnis“; „Er hat zwar die üblichen Altersbeschwerden, aber sein Verstand ist vollkommen klar!“; „Wie gesund Sie aussehen!“ Bei der Abschaffung des Wortes „alt“, „Alter“ - eine wirkliche Verstümmelung der Sprache (Ersatz dafür: „reif“, „Senioren“, „Lebensabend“) - ist der totalitäre Optimismus besonders gnadenlos. Die Alten selbst haben panische Angst vor dem Wort „alt“, das zu sagen oder zu hören ihren gealterten Vorfahren noch keine Probleme bereitet hatte. Die mangelnde Empfindlichkeit für den Gemeinplatz richtet großen Schaden an. Und es gibt kein gesprochenes Wort mehr, das ohne fatale Folgen bliebe in dieser blutigen Schlacht gegen die echte mündliche Kommunikation […] Sobald ich, bei alltäglichen Begegnungen, einen Mund vor mir sehe, im Begriff, sich aufzutun, sagt mir eine innere Stimme, dass ich die Schüsse des Gemeinplatzes mit unerbittlicher Härte erwidern müsste, habe dabei aber das ungute Gefühl, keine andere Munition in Reichweite meiner Lippen zu finden als kraftlose, resignierte Ironie. Wo ist denn auf einmal meine bleikugelharte Schlagfertigkeit geblieben, mit der ich jeden Angriff von Optimismus abgewehrt und Tote zum Leben erweckt habe? Der unerbittliche Mund vor meinen Augen hat sie vertrieben. „Einst war ich jung und jetzt bin ich alt“, heißt es in Psalm 37: Ich habe etliche Milliarden von Worten gehört und geäußert, und nur ein paar Dutzend davon sind keine Gemeinplätze gewesen. … © 2012 Diederichs Verlag München, alle Rechte, insbesondere auch die Nutzung für Text- und Datamining im Sinne von § 44b UrhG, vorbehalten