LESEPROBE<
C.J. Sansom, Pforte der Verdammnis, 2004, Fischer / Scherz Auszüge Kapitel 1: Die Gasse führte steil nach unten, so dass ich trotz meiner mangelnden Zoll einen guten Ausblick hatte, als eine feiste Alte in schmierigen Gewändern in die Tür trat, in der Hand einen dreibeinigen Eisenständer. Auf einer Querstange balancierte der seltsamste Vogel, den ich je gesehen hatte. Er war größer als die fetteste Krähe, sein kurzer Schnabel krümmte sich zu einem Furcht erregenden Haken, und sein rotes und goldenes Federkleid leuchtete so grell, dass es gegen das schmutzige Grau der Gasse beinah blendete. Die Menge schob sich näher heran.Die Gasse führte steil nach unten, so dass ich trotz meiner mangelnden Zoll einen guten Ausblick hatte, als eine feiste Alte in schmierigen Gewändern in die Tür trat, in der Hand einen dreibeinigen Eisenständer. Auf einer Querstange balancierte der seltsamste Vogel, den ich je gesehen hatte. Er war größer als die fetteste Krähe, sein kurzer Schnabel krümmte sich zu einem furchterregenden Haken, und sein rotes und goldenes Federkleid leuchtete so grell, dass es gegen das schmutzige Grau der Gasse beinah blendete. Die Menge schob sich näher heran. „Zurück mit euch“, kreischte die Alte. „Ich hab euch Tabitha rausgebracht, aber sie sagt kein Wort, wenn ihr euch so an sie randrängelt.“ „Das Vieh soll reden!“, rief jemand. „Ich will Geld sehen für die Mühe!“, kreischte die Vettel verwegen. „Wenn jeder von euch einen Viertelpenny springen lässt, wird Tabitha reden!“ „Bin gespannt, was für ein Trick das ist“, schnaubte Pepper, warf dem Weib jedoch wie die anderen eine Münze hin. Die Alte kratzte das Kleingeld aus dem Dreck und wandte sich dann an den Vogel. „Tabitha“, rief sie, „sag ‚Gott schütze König Harry! Eine Messe für die arme Königin Jane!“ Das Tier schien sie zu ignorieren, trat von einem schuppigen Fuß auf den anderen und beäugte die Menge aus glasig starren Augen. Auf einmal rief es – und klang dabei ganz wie die Alte: „Gott schütze König Harry! Eine Messe für Königin Jane!“ Die Leute ganz vorne wichen unwillkürlich einen Schritt zurück, viele bekreuzigten sich. […] „Tabitha, sag ‚Tod dem Papst! Dem Bischof von Rom!‘ […] Das Tier breitete die Flügel aus, und ein entsetztes Raunen ging durch die Menge. Ich sah, dass man ihm die Federn grausam bis zur Hälfte gestutzt hatte; der Vogel würde nie wieder fliegen. Er vergrub den Hakenschnabel im Brustgefieder und begann sich zu putzen. […] Früher hätte mich die Aussicht, meinem mächtigen Dienstherrn persönlich gegenüberzutreten, ihn im Glanz seines Amtes zu sehen, in freudige Erregung versetzt, doch im letzten Jahr war ich müde geworden, der Politik und Juristerei ebenso überdrüssig wie der menschlichen Hinterlist und ihrer zahllosen Winkelzüge. Zudem beunruhigte mich, dass der Name Lord Cromwells mittlerweile noch größere Furcht verbreitete als jener des Königs. In London hieß es, die Rotten der Bettler zerstreuten sich, sobald sie ihn in der Nähe wüssten. So hatten wir jungen Reformatoren uns die Welt nicht vorgestellt, wenn wir uns im Geheimen zu endlosen Gesprächen zusammenfanden. Wie Erasmus hatten wir einst geglaubt, dass sich religiöse Zwistigkeiten allein mit dem Glauben und der Nächstenliebe schlichten ließen; doch mittlerweile, zum Winterbeginn des Jahres 1537, war ein Aufstand blutig niedergeschlagen worden, stieg die Zahl der Hinrichtungen von Tag zu Tag und suchte ein jeder gierig an sich zu raffen, was einst im Besitz der Mönche war. […] Als ich den Westminster Palace erreichte, goss es in Strömen, und ich bewegte mich durch einen dichten Regenvorhang. Die wenigen Reiter, denen ich begegnete, saßen wie ich zusammengesunken und in ihre Mäntel gehüllt auf den Pferden, und gemeinsam fluchten wir auf den kalten Guss, den man uns verabreichte. […] Für gewöhnlich wimmelte es im Hof von schwarzgekleideten Juristen, die über Gesetzestexte debattierten, und von Beamten, die in ruhigen Ecken Streitgespräche führten oder Intrigen ausheckten. Heute jedoch hatte der Regen sie alle ins Haus getrieben, und so war der Hof nahezu menschenleer. Nur ein paar verdreckte, zerlumpte Gestalten standen eng aneinander gedrückt und triefend nass im Eingang des Gerichtsgebäudes: Ehemalige Mönche, die von den aufgelösten Klöstern gekommen waren, um die Laienpfarreien einzufordern, die man ihnen in Aussicht gestellt hatte. […] Im Gegensatz zur Vorhalle war Lord Cromwells Zimmer düster, denn nur eine kleine Wandleuchte neben dem Schreibtisch kämpfte gegen die Dunkelheit des Nachmittags. Während die meisten hohen Würdenträger ihre Wände mit prunkvollen Gobelins hätten schmücken lassen, waren die seinen mit Schränken vollgestellt, die bis unter die Decke reichten und Hunderte von Schubladen aufwiesen. Überall standen Tische und Kommoden herum, auf denen sich Berichte und Listen stapelten. Hinter einem breiten Rost prasselte ein großes Holzfeuer. Zunächst konnte ich ihn gar nicht sehen. Dann entdeckte ich seine untersetzte Gestalt am anderen Ende des Zimmers, neben einem Tisch. Er hielt eine Schatulle in die Höhe und maß mit verächtlichem Stirnrunzeln ihren Inhalt, wobei sich der breite, schmallippige Mund über dem gespaltenen Kinn nach unten zog. In dieser Haltung erinnerte sein Kiefer an eine große Falle, die jeden Moment aufschnappen konnte, um mich beiläufig, mit einem einzigen Bissen zu verschlingen. […] Ich blickte auf den Tisch hinunter. Zu meinem Erstaunen stapelten sich darauf Reliquienbehälter unterschiedlicher Größe. Alle schienen aus Gold oder Silber zu sein; viele waren mit Edelsteinen besetzt. Durch altes, fleckiges Glas konnte ich Stofffetzen darin erkennen und Knochensplitter, die auf samtenen Kissen ruhten. Ich blickte auf den Schrein, den er immer noch in Händen hielt, und sah, dass ein Kinderschädel darin lag. Er hob das Behältnis mit beiden Händen in die Höhe und schüttelte es, dass im Inneren ein paar lose Zähne rasselten. Der Generalvikar lächelte grimmig. […] Er stellte den Schrein auf den Tisch und zeigte auf eine lateinische Inschrift auf der Vorderseite. „Seht Euch das an.“ „Barbara sanctissima“, las ich. Ich besah mir den Schädel, der noch vereinzelt Haare aufwies. „Der Schädel der heiligen Barbara“, stellte Cromwell fest und schlug dabei mit der flachen Hand auf den Schrein. „Ein junges Mädchen, zur Römerzeit vom eigenen heidnischen Vater hingeschlachtet. Aus dem Cluniazenserkloster in Leeds. Eine hochheilige Reliquie.“ Er bückte sich und griff nach einer silbernen Schatulle, besetzt mit edlen Steinen, Opalen, wie mir schien. „Und hier – der Schädel der heiligen Barbara, aus dem Frauenkloster Boxgrove in Lancashire.“ Er ließ ein raues Lachen hören. „In der Neuen Welt soll es ja angeblich zweiköpfige Drachen geben. Nun, hier bei uns haben die Heiligen zwei Köpfe.“ „Herr Jesus!“ Ich musterte die Schädel. „Ich frage mich, wem sie wohl wirklich gehört haben?“ Wieder ließ er ein bellendes Lachen hören und versetzte mir einen herzhaften Schlag auf die Schulter. „Haha, ganz mein Matthew! Ihr geht den Dingen auf den Grund. Und genau dieser forschende Verstand ist jetzt gefragt. Dieser goldene Schrein soll tatsächlich im römischen Stil gefertigt sein. Ich lasse ihn trotzdem mit den übrigen im Schmiedeofen des Tower einschmelzen, und die Schädel werfen wir auf den Mist. Menschen sollen keine Knochen anbeten.“ © 2004 S.Fischer Verlag GmbH Frankfurt, alle Rechte, insbesondere auch die Nutzung für Text- und Datamining im Sinne von § 44b UrhG, vorbehalten